Miklós Radnóti

Kein Blick zurück, kein Zauber

 

Gedichte und Chronik

 

Herausgegeben von György Dalos

 

Gedichte aus dem Ungarischen von Markus Bieler

 

Übertragung der Chronik: Ulrich Schuster, Gabriella Tutunzisz

 

Kirsten Gutke Verlag / Köln · Frankfurt, 1999

 

ISBN: 3-928872-32-X

 

Preis: € 20,-

 

 

Titelbild:      Abbildung einer handgeschriebenen Notiz aus dem Heft “Avala”

 

Der ungarische Dichter jüdischer Abstammung Miklós Radnóti wurde nach einem „Gewaltmarsch“ aus dem Lager Heidenau der Organisation Todt in Bor (heute Bundesrepublik Jugoslawien) im November 1944 im Dorf Abda bei Györ erschossen. Anderthalb Jahre später fand man bei seiner Exhumierung die letzten Gedichte, die heute zu den wichtigsten der modernen ungarischen Poesie gehören. Diese Dichtung ist nicht einfach die Reflexion eines Holocaust-Opfers, sondern die Begegnung eines Genies mit seinem eigenen, historisch bedingten und bewusst erlebten Schicksal. Den Gedichten ist die „Chronik“ des Journalisten Abel Köszegi beigefügt, der versucht, aufgrund zeitgenössischer Erinnerungen den Leidensweg Miklós Radnótis nachzuerzählen.

 

Miklós Radnóti (1909 – 1944) verlor bei seiner Geburt die Mutter und den Zwillingsbruder; als er 12 Jahre alt war, starb der Vater. An der Universität von Szeged erwarb er 1935 das Diplom als Gymnasiallehrer. In den späten dreißiger Jahren war er als freischaffender Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Rilke, Shakespeare, La Fontaine, Appolinaire) sowie als Mitarbeiter der renommierten Literaturzeitschrift „Nyugat“ (=Westen) tätig. Während des Krieges wurde er aufgrund seiner jüdischen Abstammung zur Zwangsarbeit zunächst auf Ungarns Staatsgebiet einberufen, im Mai 1944 dann nach Bor/Serbien. Während eines „Gewaltmarsches“ durch Ungarn Anfang November 1944 wurde der kranke und extrem geschwächte Dichter in Abda bei Györ von einem Mitglied der Aufseher-Gruppe erschossen. Seine letzten Gedichte wurden nach seiner Exhumierung in der Tasche seines Mantels in einem Heft mit der Aufschrift „Avala“ gefunden.

 

Im Vorgefühl des Todes

 

Geh, spazier nur, Todgeweihter!

im Dickicht stecken Nachtwind drin

und Katze; die Allee fällt um

vor dir her: vor Entsetzen krumm

und fahlweiß läuft die Straße hin.

 

Verwirktes Herbstblatt, schrumpfe denn!

schrumpf, angsteinjagend arge Welt!

vom Himmel nieder zischelt Frost,

wie auf erstarrten braunen Rost

der Fluren Wildgansschatten fällt.

 

O Dichter, leb jetzt ohne Wahn,

wie droben, Wind und Schnee im Haar,

das Bergvolk lebt, und sündlos rein,

wie manch ein gutes Jesulein

auf alten frommen Bildern war.

 

Und hart, wie, wenn man auf ihn schießt,

der wunde Wolf sein Blut vergießt.

 

1936

 

Miklós Radnóti

 

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Miklós Radnóti war sich der Realität der europäischen Tragödie schon sehr früh bewusst. Er verbrachte den Sommer 1936 in Paris und betrachtete dort sorgenvoll die Nachrichten aus dem benachbarten Spanien. Den Tod seiner Dichterkollegen, so die Ermordung von Garcia Lorca, die Selbstmorde von Attila József, Jiri Machen und Ernst Toller, verstand er als Signal. Seit 1936 wurde der Tod zum Hauptthema seiner Dichtung.

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Für meine Generation war Miklós Radnóti eine Legende. Viele von uns meinten, das Land, das er mit den Augen des Propheten Nahum kommen sah, im Sozialismus wiederzuerkennen. Wir fühlten uns als Adressaten seiner Zeilen, als „die mündig gewordenen Söhne und Töchter“, die seine Gedichte „verstehen werden“. Für uns war er nicht nur Quelle des ästhetischen Genusses sondern wie auch Attila József, eine moralische Instanz.

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Aus dem Vorwort von György Dalos