Eurydike singt – Neue Bulgarische Lyrik

 

Bulgarisch-Deutsche Lyrikanthologie

 

Herausgegeben und übersetzt von Norbert Randow

 

Autoren:     Georgi Belew, Boris Christow, Ivan Borislawow, Viktor Samuilow, Ekaterina Tomowa, Iwan Metodiew, Kiril Kadijski, Rada Pantschowska, Malina Tomova, Fedja Filkowa, Ango Bojanow, Maja Panajotowa, Sali Ibrachim, Georgi Borissow, Valentina Radinska, Nadja Popowa, Rumen Leonidow, Slatomir Slatanow, Edwin Sugarew, Ljubomir Nikolow, Kiril Merdshanski, Miglena Nikoltschina, Ilko Dimitrow, Ani Ilkow, Darja Charalanowa, Krassimira Safirowa, Georgi Ruptschew, Wladimir Lewtschew, Virginija Sachariewa, Bojko Lambowski, Peter Tschuchow, Mila Wassow, Danila Stojanowa, Boris Rokanow, Marijana Fyrkowa, Petja Dubarowa, Mirela Iwanowa, Albena Chranowa, Zanko Lalew, Elena Alekowa, Kristin Dimitrowa, Tzveta Sofronieva, Georgi Gospodinov, Amelija Litschewa, Elin Rachnew, Plamen Dojnow

 

Kirsten Gutke Verlag / Köln · Frankfurt, 1999

 

ISBN: 3-928872-13-3

 

Preis: € 20,-

 

 

Titelbild:      Nach einem Gemälde von Iwan Milew

 

Der vorliegende Band bietet eine repräsentative Auswahl von Gedichten der bedeutendsten nach dem zweiten Weltkrieg geborenen bulgarischen Lyriker/-innen. Die ältesten von ihnen debütierten um die Mitte der sechziger Jahre, d.h. zu einer Zeit, da sich, zunächst vom dichterischen Sensorium als Wandlung der allgemeinen Bewusstseinslage wahrgenommen, bereits die Zersetzung des Totalitarismus anbahnte. Nach der Wende im Jahre 1989 kam es in Bulgarien zu einem Boom lyrischer Produktion. In Hunderten und Aberhunderten von Gedichtbänden artikulierte sich in unterschiedlichster Diktion nicht nur eine befreite Sicht auf die Welt, sondern auch ein neues, ungemein kraftvolles Lebensgefühl, das die tragische Dimension menschlicher Existenz keineswegs ausklammerte. Die Zeit wird diese schier unüberschaubare Produktion filtern. Aber schon jetzt steht fest: Die moderne bulgarische Lyrik verfügt über Stimmen, die im Ensemble der europäischen Dichtung unüberhörbar sind. Diesen Stimmen einen Zugang zu unserem Ohr, mehr noch: zu unserem Herzen zu bahnen, ist das Anliegen unserer Anthologie.

 

Ich kopiere Schmetterlinge – manche sagen, es seien Verse.

Ich trinke Wodka mit viel Mondsaft.

Ich trage eine dunkle Brille gegen Magengrimmen.

 

Habe ich euch etwas getan?

He!?

 

Elin Rachnew

 

____________________________

 

Berlin

 

Für Alexander Gerow

 

Die Sonne – ein Zigarettenrest auf dem Trottoir des Himmels,

niemand ist da, der ihn austritt, damit es endlich dunkel wird,

damit dies Geheule von Autos und Menschen sich legt,

damit mich die Stille umfängt – auch wenn sie kalt ist.

Damit die Springbrunnen zur Ruhe kommen

und mich der Fisch in Formalin

aus dem Museum aufschreckt:

„Immer nach Osten, nach Osten,

zwischen dem strömenden Schilf schläft der Fluß.“

 

Und so gehe ich denn...

 

Das mechanische Glühwürmchen soll mich zu jener Nässe führen,

die die aufstöhnende Mittagshitze in ihren Schoß presst.

Aus der Scheide der Ruhe

will ich diesen schönen Fluß herausziehen

und will ihn schwenken;

will die Wolken mit ihm peitschen

und das Gras und dessen grüne Knie streicheln,

will ihm meine Stimme geben...

Denn wenn ich einst von den anderen Sternen hierher zurückkehre,

wird niemand sich an mich erinnern. Niemand!

 

Nur dieser zerschnittene Fluß, den ich rief,

wird mich hier erwarten, wird von mir träumen.

Sein Bett wird trocken sein,

aber er wird es nicht verkaufen –

ich soll ihn erkennen.


Und wenn unzerteilte Steine mir hinterherlaufen,

werden Winde sie glätten und bearbeiten,

werden sie ganz glattmachen und bearbeiten,

bis sie schließlich lebendig werden,

die goldenen Pferde auf dem Tor,

durch das nur die Sonne hereinkommt,

ohne sich niederzubeugen!

 

1976

 

Ljubomir Nikolow

 

Die Lyrik Ost- und Südosteuropas ist dem westlichen Leser auch heute noch – so viele Jahre nach der Öffnung zum Westen – weitestgehend unbekannt. Das liegt einerseits an der relativ geringen Vertrautheit mit den so unterschiedlichen in diesem Raum gesprochenen Sprachen, andererseits aber auch an einer Art kultureller Randlage mancher, vor allem südosteuropäischer Länder. Nicht zuletzt aber ist dafür – eine für mich unglaublich traurige Erkenntnis – die durch nichts zu rechtfertigende Überheblichkeit auf Seiten unseres westlichen, nicht nur literarischen Establishments verantwortlich zu machen.

Bulgarien ist ein Land, das sowohl geographisch und historisch als auch spirituell an einem Scheideweg liegt. Als Pufferzone zwischen Europa und dem Orient – erst 1878 wurde das Land von fast fünfhundertjähriger türkischer Herrschaft befreit – fand es verhältnismäßig spät Anschluß an den zivilisatorisch weit fortgeschrittenen Westen. Dabei war es von Anfang an bemüht, seine kulturelle Tradition zu bewahren und sie mit den Anforderungen einer sich ständig wandelnden Gegenwart in Einklang zu bringen. Diese Bewegung zwischen Tradition und Moderne wird im Schreibprozeß aktiviert und im jeweiligen lyrischen Duktus neu verortet. Somit erscheint insbesondere der bulgarischen Lyrik der Prozeß zwischen Öffnung einerseits und Selbstvergewisserung andererseits eingeschrieben zu sein. Und das macht sie für uns in besonderem Maße merkwürdig und beachtenswert.

 

Aus dem Vorwort von Kirsten Gutke